„alles was wir sehen, könnte auch anders sein“ (Ludwig Wittgenstein)
Rede von Rita Latocha anlässlich der Ausstellungseröffnung in Kleestadt
Es ist selten über Kunst so viel und mit noch mehr Ressentiments gestritten worden wie über die abstrakte Kunst.
Die Künstlerin Alice Keller hat sich in ihren Arbeiten eine eigene Position erarbeitet, indem sie Assoziationen an Gegenständliches nicht explizit ausschließt. Ihr klares Interesse zeigt sie an offenen Formen, die eine Festlegung verweigern und damit beim Betrachter ein Feld an Metaphern freisetzen.
Was ist es? Was fasziniert uns an den Bildern der Künstlerin? Ist es die Ausdruckskraft der Farben oder das freie Spiel der Formen? Die selbständige Rolle der Farbe und der Form sind vielleicht der wichtigste Beitrag im Diskurs der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Alice Keller gelingt mit ihren Bildern eine geglückte Synthese zwischen einer gegenstandsunabhängigen Formenwelt und einer koloristisch-malerischen Korrespondenz. Der Arbeitstitel der Werkgruppe „Vernetzungen“ ist uns als Begriff und Methode der neuen Medien bekannt. Aus dem allgemeinen Sprachgebrauch kennen wir schon lange die Redensarten „jemandem ins Netz gehen“ oder „seine Netze auswerfen“. Mit einem Netz kann man etwas fangen oder etwas auffangen, eine Trapezkünstlerin vielleicht. Man kann aber auch durch die Netzmaschen hindurchschlüpfen oder hindurchfallen. Die Arbeiten von Alice Keller weisen häufig Netzstrukturen auf, die sowohl etwas umschließen als auch öffnen und freigeben. Dieser dialektische Prozess spiegelt sich in der Bildfindung wider. In einem kreativen Gestaltungsprozess trägt die Künstlerin bis zu zehn Malschichten auf, die sich überlagern und teilweise an den Rändern bewusst sichtbar bleiben. Dieses dichte Gewebe aus unterschiedlichen Farbschichten erzeugt eine besondere Tiefe und Räumlichkeit, die nicht durch perspektivische Anleihen hervorgerufen wird. Die raumschaffende Wirkung der Farben mit vielschichtigen Überlagerungen und Verdichtungszonen führt uns in das unauflösliche Ineinander der Bildstruktur. Der expressive Charakter der Arbeiten entsteht durch die sorgfältig abgestimmten nuancenreichen Farben, wobei grelle, überreizte Signalwirkungen vermieden werden. Die Farbpalette von Alice Keller ist nicht beliebig offen. Über Jahre hinweg experimentiert sie mit ausgewählten Farben, wie zum Beispiel mit einem immer wiederkehrenden Rot, das sehr unterschiedliche Stimmungen und vielfältige Bedeutungen transportiert. So finden wir wärmende, verhalten leuchtende Rottöne bis hin zu einem warnenden Rot, das auf den Betrachter beunruhigend wirkt. Alice Keller erprobt die Emotionalität der Farben, die oftmals in ungeahnten Kombinationen und Überlagerungen eine völlig neue Qualität hervorbringen. Den Werken der Künstlerin liegt kein vorgefertigter Bildplan zugrunde, die Komposition entwickelt sich prozesshaft. So sollte auch der Sehakt, die Tätigkeit des Betrachters, sich strukturell dem Malakt annähern und ein allmähliches Entdecken der Bildstruktur zulassen. Der Bildfindung der Künstlerin geht häufig ein Farbempfinden voraus. Ein Gedächtnisfragment, eine Atmosphäre oder eine topographische Situation wird aus ihren ursprünglichen Verknüpfungen gelöst und in der Erinnerung in Farbe getaucht. Erst in einem weiteren Schritt entwickeln sich aus dem Umgang mit den Farben jene unbestimmten Formen, die jedoch keine eindeutigen Hinweise auf reale Gegenstände darstellen. Der Reiz der Arbeiten liegt in der subtilen Andeutung von Strukturen, die durch tektonische Anordnungen und oft parzellenartig gegliederte Bildarchitekturen ganz unterschiedlich gelesen werden können. Der Wechsel von formsprengenden, unbestimmten Tendenzen hin zu den formverfestigenden Strukturen verleiht den Bildern ein Spannungsfeld. Alice Keller leugnet die Verbindlichkeit einer künstlerischen Ausdrucksweise, der Inhalt ihrer Bilder bedeutet keineswegs Gegenständlichkeit. Vielmehr sollte man die Bilder mit ihren Verweisspuren unvoreingenommen wahrnehmen, vielleicht wie eine musikalische Komposition. Ein Kunstwerk ist stets ein selbständiger Organismus mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Kein Bild ist – ob realistisch oder abstrakt – nur Zitat oder bloße Verdopplung der Wirklichkeit, immer ist es auch Verwandlung und damit oft auch rätselhaft. Die sichtbare Welt ist als Erinnerung gegenwärtig. Der Bildgegen-stand ist quasi inspirierende Stimulanz für unsere Assoziationen. Es herrscht eine Offenheit der unabgeschlossenen Formen und Formenverwandtschaften. Was der Betrachter subjektiv darin sehen mag, legt die Künstlerin nicht fest. Den eindeutig gegenständlichen Darstellungen haftet oft etwas Erdenschweres an, die abstrakte Malerei setzt im Gegensatz dazu Schwingungen frei, Momente der Irritation. Das Vertraute wird uns entzogen, Bewertungen und Bedeutungen werden fragwürdig. Der Sehakt wird zu einem Wechsel zwischen einem äußeren und inneren Erlebnis.
Alice Keller führt uns in ihren Arbeiten vor, was der Philosoph Ludwig Wittgenstein zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie folgt formulierte: „alles, was wir sehen, könnte auch anders sein, alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein, es gibt keine Ordnung der Dinge a priori.“
Die Künstlerin macht sichtbar, dass die elementarsten Dinge nicht auslotbar sind, dass es keine endgültigen Lösungen gibt, sondern immer nur Veränderungen, unendliche Varianten von Wahrnehmungen. Die Bilder sind von einer emotionalen Kraft und Dynamik. Durch den hohen Grad der Abstraktion werden die gewöhnlichen Dinge mit einer poetischen Dimension ausgestattet. Das Verschwinden des real Sichtbaren ist nicht nur eine formale Entscheidung, vielmehr steht dahinter eine ästhetische Kategorie, ein Gewinn an Freiheit durch die Absage an die Zwänge des Formalismus. Alice Keller hat sich die Freiheit der künstlerischen Entscheidung bewahrt, indem sie souverän über ihre künstlerischen Mittel verfügt, ohne an einen feststehenden Kanon gebunden zu sein. Diese Freiheit der Bildfindung ermöglicht dem Betrachter ebenso die Arbeiten auf verschiedenste Art zu lesen. Alice Kellers Bilder sind Metamorphosen der sichtbaren Realität und zugleich der eigenen Innenwelt von rätselhaftem Charakter: Verwandlung und Veränderung beherrschen ihre Bildwelt als Prinzip, daher der Reichtum an Formen und die Lebendigkeit der Bildsprache. Im Zeitalter eines alles überschwemmenden, alles mit sich reißenden Informationsstroms, einer Welt rasant zunehmender Automation verwandelt die Künstlerin elementare Gegebenheiten zu Bildern von meditativer Kraft.
Rita Latocha